Nicht zu Hause und doch nicht an der frischen Luft
Wie immer dem sei: von den Lipizzaner der Spanischen Reitschule bis zur Oper, vom Hotel Sacher bis zur Konditorei Demel ist die Wirklichkeit, die der Legende nachkommt, ja geradezu nacheifert, sind es die funktionierenden Legenden, die das Charakterbild Wiens entscheidend mitbestimmen. Die weitaus komplizierteste dieser Legenden ist das Wiener Kaffeehaus. Ein Journalist macht eine aufschlußreiche, gleichwohl geheimnisvolle Beobachtung: "Immerzu gehen Leute ins Hawelka hinein, und keiner kommt wieder heraus. Was macht der Hawelka eigentlich mit seinen Gästen?" Was ist ein Kaffeehausliterat? Ein Mensch, der Zeit hat, im Kaffeehaus darüber nachzudenken, was die anderen draußen nicht erleben. Das berühmte Glas Wasser, das bei längerem Verweilen verdoppelt und verdreifacht wird, stellt eine Höflichkeit dar, dem Gast zu bezeugen, daß im Wiener Cafè nicht die Konsumation entscheidend ist, sondern die Anwesenheit. Den größten Posten im literarischen Budget des kaufenden Publikums beziffern bei weitem nicht mehr die Bücher, sondern die Zeitungen. Jedes Kaffeehaus ist eine Leihbibliothek, fast jeder größere Cafètier gibt bis zwei- bis dreihundert Gulden für seine Zeitungen aus. Welcher Fürst gibt das für seine Bücher aus? Im Kaffeehaus sitzen Leute, die allein sein wollen, aber dazu Gesellschaft brauchen. Im Kaffeehaus sitzen Talente so dicht an einem –Tisch, daß sie sich einander gegenseitig an der Entfaltung hindern. Mancher strebsame junge Mann hierzulande, der für die Bildung seines Genius etwas tun wollte, hat seine Laufbahn damit begonnen, daß er sich zunächst das geeignete Cafè aussuchte. Seit 10 Jahren sitzen die zwei jeden Tag stundenlang, ganz allein im Kaffeehaus. Das ist eine gute Ehe! Nein, das ist ein gutes Kaffeehaus. |